SONNTAG, 9.00 BIS 23.30 UHR

Hans Schmidt hatte bis neun Uhr geschlafen, seine Übungen absolviert, gefrühstückt und danach Maria angerufen. Er fühlte sich gut, tippte ein paar Notizen in sein Notebook, loggte sich ins Internet ein und sah seine E-Mails durch. Um zwölf Uhr ging er in sein Lieblingsrestaurant direkt an der Kieler Förde, wo er an dem für ihn reservierten Tisch mit herrlichem Blick übers Wasser Platz nahm. Er kannte den Inhaber seit vielen Jahren, sie unterhielten sich freundschaftlich ein paar Minuten bei einem Glas Orangensaft, bis Schmidt die Bestellung aufgab, sein geliebtes Pilzomelett. Das Rezept wurde von dem Inhaber wie ein Schatz gehütet, und alle Überredungskunst hatte nichts genutzt, Hans Schmidt würde dieses Rezept nie bekommen.

Um Viertel nach eins fuhr er zu einer Verabredung mit einem ehemaligen Studienkollegen, der es durch Börsenspekulationen und Insidergeschäfte zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte. Die Finanzkrise war an ihm spurlos vorübergegangen, da er rechtzeitig in werterhaltende Objekte investiert hatte.

Es war ein ruhiger und entspannter Tag, so wie er es geplant hatte.

Um halb sieben kehrte er nach Hause zurück. Um neunzehn Uhr schaltete er die Fernsehnachrichten ein. Die Meldung, dass der bekannte Musikproduzent Peter Bruhns gestorben sei, quittierte er mit einem Lächeln. Von einer Stellungnahme der Polizei oder Staatsanwaltschaft war noch keine Rede. Dafür in den Nachrichten um zwanzig Uhr. Oberstaatsanwalt Rüter trat vor die Kameras und Mikrofone. Über die genaue Todesursache wollte er noch keine Erklärung abgeben, doch es wurde davon ausgegangen, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Kein Wort jedoch von der jungen Frau, die Schmidt zusammen mit Bruhns getötet hatte. Er wusste, warum man sie verschwieg, es hätte Bruhns' Ansehen weiter beschädigt. Ihm war es gleich. Kerstin Steinbauer hatte sich ihr frühes Ableben selbst zuzuschreiben, doch das würden Henning und Santos noch herausfinden. Nach den Nachrichten hörte er Musik, legte die Beine hoch und schloss die Augen. Vor ihm lagen schwierige Tage und vor allem Nächte, die seine vollste Konzentration erfordern würden. Um einundzwanzig Uhr griff er zu seinem Mobiltelefon, wählte eine vierzehnstellige Nummer, ließ es einmal läuten, wählte erneut und wartete, bis wie vereinbart nach dem dritten Klingeln abgenommen wurde.

»Hallo«, meldete sich eine rauchige weibliche Stimme.

»Hallo. Wie geht es dir?«

»Blendend, danke der Nachfrage. Und dir?«

»Ich denke, du hast erfahren, was passiert ist. Traurig,

nicht?«

»Ja, sehr traurig, mir bricht es fast das Herz. Aber musste das mit der Frau sein?«

»Ja, es ging nicht anders, aber das werde ich dir noch erklären. Ich melde mich übermorgen wieder. Du weißt ja, die Geschäfte laufen momentan nicht so besonders, da sind Verhandlungen immer aufwendig und nervenaufreibend.«

»Ja, ich weiß. Wie geht's deiner Mutter?«

»Den Umständen entsprechend gut. Allerdings scheint das nur das letzte Aufbäumen zu sein. Ich werde mich um sie kümmern, bis es so weit ist.«

»Nach all dem Leiden wird es das Beste sein. Sie freut sich bestimmt, dich bei sich zu haben, vor allem in ihrer letzten Stunde. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinen Verhandlungen und die nötige Ruhe und Gelassenheit. Denk an das Sprichwort - in der Ruhe liegt die Kraft. Danke, dass du mich auf dem Laufenden hältst.« »Das hatten wir so ausgemacht. Bis übermorgen, es kann allerdings sehr spät werden.«

»Ich gehe nie früh zu Bett, das weißt du doch. Pass auf dich auf.«

»Das sagst du bei jedem Telefonat. Keine Sorge, ich passe immer auf. Nun schlaf gut. «

»Warte. Was für eine Strategie hast du diesmal?«

»So etwas gebe ich niemals vorher preis, da bin ich abergläubisch. Es könnte was schiefgehen, du weißt schon, was ich meine. Das wollen wir doch beide nicht, oder?«

»Nein, das wollen wir nicht. Ach ja, unsere Freunde waren diesmal sehr schnell, viel schneller, als erwartet. Ich hab's eben im Fernsehen gesehen.«

»Ach komm, als wenn du das nicht vorher schon gewusst hättest«, entgegnete Schmidt schmunzelnd. »Und wen interessiert das? Der Bösewicht steht doch ohnehin schon fest, sie warten nur auf den richtigen Zeitpunkt, ihn ... du weißt schon, was ich meine ...«

»Nun, ich denke, sie werden kurzen Prozess machen. Ich erwarte deinen Anruf übermorgen.« »Bis dann.«

Nach dem Telefonat legte er eine andere CD ein, Debussy, und nahm das Buch zur Hand, das er seit Jahren im Regal stehen und nie gelesen hatte, Der alte Mann und das Meer von Hemingway. Er las die Geschichte in einem Rutsch. Als er geendet hatte, dachte er, der alte Mann, das bin ich, aber es gibt einen Unterschied zwischen Santiago und mir: Ich werde den Kampf nicht verlieren. Und die Haie werde ich alle töten. Das verspreche ich. Er stellte das Buch zurück, machte die Musik aus und ging nach oben. Er war müde und erschöpft, obwohl er an diesem Tag nicht viel getan hatte. Es ist die Kälte, dachte Schmidt auf dem Weg ins Bad, wo er sich wusch, die Zähne putzte und sich wie jeden Abend mit beiden Händen durch das kurzgeschnittene Haar fuhr. Ein letzter Blick in den Spiegel, bevor er sich umdrehte und das Licht löschte. Er ging zu Bett. Schmidt lag kaum zwei Minuten auf dem Rücken, als er schon schlief. Und wenn er am Morgen aufwachte, würde er noch genauso daliegen. Er ruhte in sich selbst, denn es gab nichts, das ihn plagte. So würde es auch in Zukunft sein. Wenn es stimmte, was ihm eine Zigeunerin vor nicht allzu langer Zeit nach einem langen Blick in seine Hände prophezeit hatte, würde er steinalt werden und irgendwann friedlich einschlafen. Auch wenn er Wahrsagen für ausgemachten Humbug hielt, so war es doch eine angenehme Vorstellung. Ja, ich werde steinalt, ich bin gesund, ich halte mich fit, was soll mir passieren? Viele kennen Hans Schmidt, aber wer ich wirklich bin, das weiß niemand. Ich bin im Vorteil. Wie immer.

 

Eisige Naehe
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